“Sie plünderten, mordeten und brannten Alles nieder”.
Vortrag von Hubert Jenniges
vor der Jahreshauptversammlung des Geschichts- und Museumsvereins “Zwischen Venn und Schneifel”,
am 24. März 2012, im Hotel Drosson, Wirtzfeld.
Werte Geschichtsfreunde,
Heute führt uns der Weg in eine ferne Vergangenheit. Wir blicken rund 1130 Jahre zurück; wir erleben das Ende des 9. Jahrhunderts, als das Siedlungsgefüge unseres Gebietes bereits in groβen Linien feststand, d.h. die bedeutendsten Orte in unserem Raum bestanden bereits. Die intensive Urbarmachung und Rodung des Landes sowie die darauf folgenden Dorfgründungen hatten in der Karolingerzeit einen ersten Höhepunkt erreicht. Der Ausbau des Siedlungslandes ging jetzt in eine weitere Phase: Landgüter und Höfe waren an siedlungsfreundlichen, verkehrsgünstigen und ertragreichen Stellen entstanden. Einige waren groβzügig angelegte Anwesen, die dem König gehörten. Sie umfassten daher auch einen Trakt, der den umherziehenden Herrschern jederzeit als Residenz dienen konnte – das war mit Sicherheit in Thommen und Manderfeld der Fall, später auch in Büllingen, wo Königsaufenthalte bezeugt werden – desgleichen in zahlreichen Landgütern des Prümer Landes und des Öslings. Daneben gab es agrarische Selbstversorgungsbetriebe, deren Gründung von den Klöstern Stablo-Malmedy und Prüm ausgegangen war.
Um die Landgüter und Königsvillen bildeten sich auch die organisatorischen Kerne des jungen Christentums: Gotteshäuser entstanden, Pfarrsprengel wurden abgegrenzt, um dem Landesherrn, der Kirche und ihren Dienern die Zehntabgaben zu sichern. Offensichtlich atmete das Eifelland zu Ausgang des 9. Jahrhunderts eine relative Ruhe und Sicherheit.
Doch im Herbst 881 erreichte eine Hiobsbotschaft die Eifel und verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Die Normannen kommen! In mehreren Teilen des Frankenreiches seien sie aufgetaucht, schreibt ein Prümer Chronist. Überall hätten sie eine Spur der Verwüstung hinterlassen.
Allgemeines zu den Normannenzügen
I.
Die Normannen, die Mannen aus dem Norden, kamen -zumindest was unser Gebiet angeht- aus dem heutigen Dänemark und gehörten zum Stamm der fränkischen Wikinger. Sie kamen aus einem Raum, wo im 9. Jahrhundert das Christentum noch keinen Einzug gehalten hatte, und wo es zu dem Zeitpunkt keine gröβeren Städte mit höheren Zivilisationsansprüchen gab. Innere Spannungen – wahrscheinlich Überbevölkerung – bewogen das nordische Volk zu den Plünderungszügen. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht waren die Normannen keine Seeräuber; bei der damals wenig entwickelten Handelsschiffahrt wäre auch keine reiche Beute angefallen. Das Wasser (die Seen und Flüsse) diente ihnen lediglich als Verkehrsweg; die Schiffe nur als Transportmittel.
Die plündernden Scharen aus dem Norden waren also Landräuber, die auf ihren schnellen Kähnen die Ströme aufwärts fuhren und sogar nicht die Mühe scheuten, ihre leichten Boote eine kurze Strecke über Land zu ziehen. Auf kürzeren Streifzügen und in seichterem Fahrwasser benutzten sie aus einem Eichenstamm gefertigte kleinere Boote, die sie im Schlepp mitführten.
II.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die räuberischen Unternehmungen der Eindringlinge eine straffe Organisation und Disziplin erforderten. Als zu Ende des 9. Jahrhunderts die Normannen unseren Eifelraum verwüsteten, verfügten sie nachweislich über ein geordnetes Heer mit einer Reiterei. In nächtlichen Eilmärschen erreichten sie ihre Ziele: die Städte, die Klöster sowie die reich ausgestatteten, aber meistens ungeschützten Landgüter und Villen der Eifel. Dies setzte voraus, dass die Angreifer über Etappen- und Standlager verfügten. Ihre Aktionen erfolgten schnell und gezielt; die Überrumpelung war denn auch derartig, dass sich die Angegriffenen nicht mehr wehren konnten – oder dass ihnen erst im letzten Augenblick die Flucht gelang. Es wird berichtet, dass die Normannen mit gewaltigem Geschrei und mit dem Rasseln der Köcher zum Angriff übergingen, was bei den Opfern die unheimliche Furcht vor ihren Einfällen noch erhöhte.
III.
Begonnen hatten die Plünderungen der Räuber aus dem Norden gut hundert Jahre früher, 793, als sie in Südwest-England einfielen. Trotz eines Küstenschutzes, den Karl der Groβe angelegt hatte, konnten seitdem die Wikingerfahrten nicht mehr gebremst werden. Die Normannen verwüsteten zunächst Südfriesland und setzten sich in den Jahren 834-39 an der Rheinmündung fest. Nun wurden sie zu einer Gefahr für das gesamte Frankenreich. In den 40er- Jahren des 9. Jahrhunderts begann mit der ersten Generation der Normannenführer die systematische Einfahrt in die Ströme Seine, Loire, Garonne. In den Jahren 846-849 plünderten sie erneut Friesland und dehnten ihre Raubzüge auf Bretagne und Aquitanien aus. Die zweite Generation beherrschte die Periode von 850 bis 878. Erneut wurden Friesland und Aquitanien angegriffen. Die Loire-Gegend und die reiche Stadt Orléans waren die nächsten Ziele. 861 überfielen die Normannen Paris und drangen nordwärts bis Flandern vor. Im Oktober 866 setzen sie sich an der Loiremündung fest und verwüsten das Loiretal. Doch einige Niederlagen und hohe Tributzahlungen bewirkten vorerst ein Abebben der Raubzüge.
Mit der Bildung eines groβen einheitlichen Heeres zwischen Rhein und Loire (in den Jahren 879 bis 892) tritt die dritte Generation der Wikingerführer an. In diese Zeit fallen auch die Plünderungszüge der Jahre 881-82 und 892, die vornehmlich den Raum zwischen Maas und Rhein und somit auch unser Gebiet berührten.
Die Raubzüge von 881-882
I.
Im November des Jahres 881 waren die Normannen zunächst der Maas aufwärts gefolgt und hatten an einem Ort mit Namen Haslon ein befestigtes Winterlager errichtet. Dasselbe diente ihnen als Ausgangspunkt für ihre ausgedehnten Raubzüge. Wo lag dieses genannte Haslon ? Die Identifizierung des Ortes ist noch nicht mit Sicherheit gelungen. Er lag auf jeden Fall im südniederländischen Limburg: Entweder ist es der Ort Esloo oder die Siedlung Asselt bei Roermond.
Von hier aus führten die Normannen ihre Raubexpeditionen durch. Die ersten Ziele waren die nahe gelegenen Städte Maastricht und Lüttich, wo die reich ausgestatteten Kirchen der vollständigen Vernichtung anheimfielen. Dem damaligen Lütticher Bischof Franco gelang es nicht – trotz eines umfangreichen militärischen Aufgebots – die Maasstadt zu halten. Der groβe Teil der Lütticher Bevölkerung wurde hingemordet. Nächstes Ziel der Angreifer war der Hespengau mit seinen florierenden Landgütern, der alten Stadt Tongern und dem Trudo-Stift in Sint Truiden.
Dann wandten sich die normannischen Plünderer nach Osten. Sie griffen Jülich und Neuβ an und legten diese gut befestigten Niederlassungen in Schutt und Asche. Dasselbe Schicksal widerfuhr -trotz seiner gewaltigen Römermauern- dem ehrwürdigen Köln mit sämtlichen Klöstern und Kirchen und noch weiter rheinaufwärts der Stadt Bonn. Von hier ging es wieder westwärts über Zülpich nach Aachen. Aachen galt seit Karl dem Groβen noch immer neben Rom als die erste und wichtigste Stadt des Reiches. In dem berühmten Marienmünster richteten die Normannen einen Pferdestall ein. Dann steckten sie den kaiserlichen Palast samt den Bädern in Brand.
II.
Ende Dezember 881/Anfang Januar 882 ist unser Gebiet trotz seiner Abgeschiedenheit und der schlechten Wege an der Reihe.
Die Angreifer verfügten über gute geografische und topografische Kenntnisse, die ihnen nachweislich Kundschafter überbrachten. Dies bestätigt auch die jetzt folgende Darstellung des nächtlichen Überfalls der Normannen auf das Kloster Stavelot im Dezember des Jahres 881. Es wird in den Quellen berichtet, dass Späher bei anbrechender Nacht das Klostergebäude und die zur Abtei führenden Wege genauestens ausgekundschaftet hatten.
Die Ereignisse in Stavelot und auch in Malmedy sind in einem ausführlichen Bericht aufgezeichnet, der in einer Beschreibung der Wunder enthalten ist, die dem heiligen Abteigründer Remaclus zugeschrieben werden. Da der Bericht kurz nach 887, also nur einige Jahre nach dem normannischen Plünderungszug, von einem Klostermönch verfasst wurde, der selbst Augenzeuge des Geschehens war, kann angenommen werden, dass der Schreiber in der Darstellung der Ereignisse die Wahrheit respektiert.
Was war in diesen Dezembertagen 881 geschehen? Am Abend des 6. Dezember 881 meldete sich ein Mann vor dem Klostertor in Stavelot. Er war offensichtlich vor den Normannen auf der Flucht. Er berichtete der Klostergemeinschaft, dass die gefürchteten Krieger aus dem Norden herannahten. Ein Vortrupp sei bereits in der Umgebung gesichtet worden und werde die Fluchtwege der Abtei versperren. Es sei jetzt die schleunigste Flucht der gesamten Klostergemeinschaft geboten. Es ist durchaus möglich, dass der Flüchtling von Malmedy kam, denn hier hatten die Normannen bereits alle Vorkehrungen zum Angriff auf das Kloster getroffen. Da Stavelot und Malmedy eine Doppelabtei unter Führung desselben Abtes waren – in Malmedy wurde der Abt durch einen Prior vertreten – dürfte die Kommunikation zwischen beiden Klostergemeinschaften in dieser gefährlichen Situation relativ schnell verlaufen sein, was wohl in anderen bilateralen Fragen der Doppelabtei nicht immer der Fall war.
Die erste Handlung der Stabloer Mönche war die Sicherung der Gebeine ihres heiligen Gründers Remaclus. In aller Eile hoben die Mönche die Überreste des Heiligen aus der Grabkammer und betteten sie in einen Schrein, den sie auf eine Trage setzten. Dann füllten sie Truhen und Kisten mit weiteren Schätzen ihres Klosters. So beladen, begaben sie sich auf den Fluchtweg. Zahlreiche Bewohner der Umgebung schlossen sich den flüchtenden Klostermännern an. Es war am Spätabend des 6. Dezember 881. Der Jahreszeit entsprechend herrschte wahrscheinlich klirrende Kälte; möglicherweise war das Gelände auch noch verschneit und vereist und nicht für lange Fuβmärsche geeignet. Der Schreiber der Fluchtszene berichtet denn auch, bereits nach einigen Meilen hätte der Flüchtlingszug auf einem Hügel bei dem Ort, der Alnos genannt wurde, eine kurze Verschnaufspause eingelegt. Dieses Alnos dürfte nach den Forschungen von Dr. Bernhard Willems der heutige Ort Wanne sein. Hier ereignete sich ein sonderbares Ereignis, das als ein Wunder gedeutet wurde. Ein wunderbares Licht erschien in Form eines Lichtkegels über dem Schrein mit den Gebeinen des hl. Remaclus. Das Licht sei heller als das Mondlicht gewesen und habe den Mönchen neuen Mut und Vertrauen eingeflöβt.
Nach der Ruhepause wurde der beschwerliche, hindernisreiche Fluchtweg fortgesetzt. Nach Tagen der Gefahr und Unsicherheit erreichten die Flüchtlinge das heutige nordfranzösische Bogny und etwas später Chooz. Beide Orte, Bogny und Chooz, waren Besitzungen der Abtei Stablo-Malmedy. Hier sich konnten die Mönche in Sicherheit wiegen. Hier erhielten sie nach einigen Tagen oder Wochen die Nachricht, dass die Normannen ihre Doppelabtei Stablo-Malmedy geplündert, in Brand gesteckt und zerstört hatten.
Erst Ende 882, also ein knappes Jahr später, konnte die geflohene Klostergemeinschaft in ihre Heimat zurückkehren, wo sie Weihnachten wieder in den eigenen Mauern feiern konnte.
In der Zwischenzeit hatte Kaiser Karl der Dicke, ein Enkel Karls des Groβen, einen Waffenstillstand mit den Normannnen abgeschlossen. Dieser “Friedensvertrag” führte dazu, dass die Mönche ihr unfreiwilliges “Exil” in Nordfrankreich beenden konnten. Doch sie verblieben noch einige Zeit in Chooz, bis die an ihrem Klostergebäude angerichteten Zerstörungen behoben waren. Es wird berichtet, dass die Wiederherstellungsarbeiten vier Monate, von August bis November 882, gedauert haben. Sie betrafen die vom Feuer vernichteten Holzteile der beiden Abteigebäude in Stavelot und Malmedy – und das dürften die Zellen, die Ökonomie und die Bedachung gewesen sein. Wir können dennoch davon ausgehen, dass der materielle Schaden nicht so bedeutend war, wie in den mittelalterlichen Berichten übermittelt wird.
Nach vorgenommener Reparatur konnte die Klostergemeinschaft wieder nach Stavelot, wahrscheinlich auch nach Malmedy zurückkehren. Ein Teil der Mönche dürfte bereits vor dem 13. November 882 in den gröβtenteils restaurierten Abteigebäuden Einzug gehalten haben. Dies kann aus folgendem Ereignis abgeleitet werden: Aus Dankbarkeit dafür, dass die Mönche auf ihrer Flucht auch die Aachener Heiligtümer mitgenommen hatten und somit wieder sicher zurückerstatten konnten, ordnete Kaiser Karl der Dicke am 13. November 882 eine groβzügige Schenkung für die Klostergemeinschaft an, die der Wiederherstellung der in Mitleidenschaft gezogenen Klosterkirche in Stavelot dienen sollte. Die Mönche erhielten als Dank für ihre tatkräftige Hilfe die Einkünfte aus 22 Landgütern mit 7 Leibeigenen in mehreren namentlich genannten Orten der Ardennen.
Aus diesem Schenkungsakt des Kaisers ersehen wir also, dass die Mönche im Laufe des Jahres 881 die kostbaren Reliquien und den Schatz der Stadt Aachen, wohl vor dem Hintergrund der drohenden Normannengefahr, in Verwahr genommen und vor dem Zugriff der plündernden Wikinger gerettet hatten. Es kann also angenommen werden, dass die Klostergemeinschaft auf ihrer nächtlichen Flucht, im Dezember 881, auch die Aachener Reliquien und Kostbarkeiten mitgeführt hat, obwohl dies nicht explizit in den zeitgenössischen Berichten gesagt wird.
III.
Nach dem Überfall auf die Doppelabtei Stablo-Malmedy blieben die Normannen noch wochenlang in unserem Gebiet, das sie kreuz und quer durchstreiften. Es ist durchaus denkbar, dass sie in Eifel und Ardennen über mehrere kleine Standplätze verfügten, wo sie sich verschanzten und ihre Beute in Sicherheit bringen konnten. Möglicherweise kehrte in regelmäβigen Abständen ein Teil der Angreifer beutebeladen in das Hauptlager in Asselt (oder Esloo) bei Roermond zurück.
Sicher ist, dass sie gut vier Wochen nach dem Angriff auf Stablo- Malmedy vor dem Kloster Prüm aufkreuzten. Am Dreikönigstag des Jahres 882 (6. Januar) trafen die wilden Horden vor der Abtei am Fuβe der Schneifel ein.
Einer, der damals die dramatischen Ereignisse aus erster Hand erfahren oder zumindest mitverfolgen konnte, war der gelehrte Mönch Regino, der 10 Jahre später (892) Abt in Prüm wurde. Er schrieb als solcher die berühmte “Weltchronik”, ein Geschichtswerk, das alle wichtigen Ereignisse seiner Zeit zusammenfasste, darunter auch die Plünderungszüge der Normannen. Laut Abt Regino hatten die Wikinger auf ihrem Streifzug während drei Tagen die gesamte Gegend unsicher gemacht. Er schreibt: Als die Normannen die ganze umliegende Gegend von Prüm ausplünderten, sammelte sich eine groβe Menge von Fuβvolk, das von den Siedlungen der gesamten Umgebung gekommen war, um sich den Normannen entgegenzustellen. Etwas abschätzend meint er: Es sei ein groβer Haufen gewesen, der sich bereitgefunden habe, um gegen die Angreifer vorzugehen. Recht realistisch beschreibt Regino den ungleichen Kampf zwischen den unberittenen, schlecht ausgerüsteten und ungeübten Bauern gegen die überlegenen, kampferprobten Normannen. Wir können uns leicht die wilde Kampfszene an diesem wohl kalten Wintertag des 6. Januar 882 vorstellen: einerseits das gutformierte Heer der Normannen mit Reitern und wendigen Bogenschützen; anderseits die mit Stöcken, Harken und Sensen “bewaffneten” schwerfälligen Eifeler Bauern, die in einer sicherlich verschneiten Landschaft die Angriffe der Normannen parieren wollten. Wir ahnen schon den unrühmlichen Ausgang dieser Auseinandersetzung.
Regino schreibt: Die Normannen fielen mit lautem Geschrei über den Volkshaufen her und streckten die Bauern unter einem solchen Gemetzel nieder, dass “unvernünftiges Vieh und nicht Menschen abgeschlachtet zu werden schienen”. Nach diesem furchtbaren Blutbad in der Eifel kehrten die Normannen beutebeladen in ihr Standlager zurück. Als sie abzogen, verzehrte das Feuer, das in verschiedenen Gebäudeteilen gelegt worden war, das Kloster Prüm, da niemand mehr da war, um den Brand zu löschen. Die Gemeinschaft der Mönche unter Führung des damaligen Abtes Ansbald hatte das Weite gesucht und war rechtzeitig entkommen.
Es stellt sich natürlich die interessante Frage: Wo hat dieser Kampf gegen die Normannen stattgefunden? Wer führte die Bauern an? Wie ist das Massaker zu werten? Leider gibt es hierüber keine zuverlässigen Nachrichten.
Wahrscheinlich hat sich das Blutbad in unmittelbarer Nähe des Klosters Prüm ereignet; denn es ist deutlich, dass die kriegsuntüchtige Landbevölkerung von den Höfen und Gütern der Klosterökonomie kam. Dieser Prümer Besitz war territorial genau begrenzt: Er reichte vom östlich gelegenen Sarresdorf über den wichtigen Ertragshof Rommersheim bis zu dem im Westen gelegenen Alf (später Bleialf genannt), zu dem auch der links der Our gelegene Teil der Ortschaft Schönberg gehörte.
Wer die offene Auflehnung der Bauern organisierte, und wer das Bauernvolk befehligte, wissen wir nicht genau; kann aber vermutet werden. Es ist nämlich nicht undenkbar, dass die zum Kloster gehörenden Bauern und Knechte von Klostermännern zu diesem sinnlosen Widerstand ermuntert worden sind.
Auffallend bei der Beschreibung der Ereignisse ist die fehlende Anteilnahme Reginos am blutigen Ende des wehrlosen Bauernvolkes. Da ist kein Mitgefühl spürbar. Es ist ein emotionsloser Bericht. Die sich zur Wehr setzenden Bauern werden als “ignobile vulgus” – als rüpelhafter Pöbel, als blödes Volk, als vulgärer Haufen – bezeichnet. Sie wurden ja auch wie Vieh niedergemetzelt.
Wie ist diese kaltherzige Einstellung zu dem Massaker zu erklären? Einige Historiker sehen darin den Hinweis, dass die fränkische Oberschicht– und dazu gehörte die Prümer Klosterführung – bewusst die wenigen Habseligkeiten der Bauern den Normannen preisgab, um die Raublust der Wikinger zu befriedigen. Eine ähnliche Situation soll sich im Jahre 887 in der Seine-Gegend zugetragen haben, wo die Obrigkeit keine Anstalten machte, um die hörige Landbevölkerung zu schützen; sie überlieβ dieselbe einfach der Plünderungswut der Normannen, die dann vor weiteren Angriffen absahen. Im Falle Prüm könnte es ähnlichweise zugegangen sein. Es kommt noch hinzu, dass der Bauernaufstand der Abteiführung zusätzlich Zeit gab, um auf noch sicheren Fluchtwegen mit den Schatztruhen des Klosters zu entkommen.
Doch dies sind nachträgliche Spekulationen zu einem dramatischen Ereignis, das sich in den kalten Wintertagen vor rund 1130 Jahren ereignet hat. Wie dem auch sei, die Darstellung des Bauernwiderstands gegen die Normannen ist die älteste urkundliche Nachricht einer Volkserhebung in der Westeifel.
900 Jahre später kam es in der Eifel noch zu einer Volkserhebung; diesmal gegen die französische Fremdherrschaft. Ich meine die Ereignisse des sogenannten “Bauernkrieges”, der 1798 in Arzfeld mit einer Niederlage besiegelt wurde. Doch diese beiden Ereignisse, die so weit auseinander liegen, eignen sich in keiner Weise zu einem Vergleich!
In den später schriftlich festgehaltenen Chroniken der Abtei Prüm wird auch die Zerstörung des reichen Königshofes Manderfeld genannt, obwohl Regino in seinem Bericht nicht davon spricht. Erst viel später, im Jahre 1623, verfasste der Prümer Mönch Servatius Otler eine Chronik seiner Abtei auf Grund heute verschwundener Quellen, in der er mitteilt, dass die Normannen nach ihrem Zerstörungswerk in Prüm auch die Königsvilla Manderfeld, die der “Ruhm der Eifel” gewesen sei, vollends und für allezeit zerstört hätten. Der Manderfelder Königspalast, in dem im Jahre 854 Kaiser Lothar nachweislich weilte, und der in der Prümer Tradition mehrfach als einzigartige Anlage hervorgehoben wird, dürfte nach seiner Zerstörung durch die Normannen seine Residenzfunktion endgültig eingebüβt haben. Eigenartigerweise tritt im 10. Jahrhundert der Königshof Büllingen an Manderfelds Stelle. In Büllingen weilte im Jahre 940 König Otto, der spätere Kaiser, wo er auch urkundete. Die Spekulation ist berechtigt, ob nach der Zerstörung durch die Normannen, die Residenzfunktion Manderfelds nicht auf Büllingen übertragen worden ist.
Eine höchst ansprechende Theorie zur geschichtlichen Entwicklung des Dorfes Auw, in Zusammenhang mit den Normanneneinfällen im 9. Jahrhundert, äuβerte der aktive ZVS- Mitarbeiter und Heckingschildträger Hans-Josef Schad. Er verweist nämlich auf ein Auw, das es im Tal der Our gegeben hat. Der Ort wurde aber auf den Berg verlegt, wo es heute liegt – vielleicht, so meint Hans-Josef Schad, weil die ungeschützte Talortschaft mit dem treffenden Namen Auw beim Durchzug der Normannen zerstört worden sei und man den alten Namen mitgenommen habe. Auw auf dem Berg, so Schad, sei ja eigentlich ein faktischer Widerspruch – eine Aue ist bekanntlich nur in einer Tallage zu finden und nicht auf einem Berg.
IV.
Von den Spekulationen zurück zu den geschichtlichen Tatsachen. Wir schreiben das Jahr 891 – seit den verheerenden Normannenzügen der Jahre 881/882 sind gut 10 Jahre vergangen. Die normannische Gefahr war jedoch in diesem Jahrzehnt keineswegs gewichen. Zwischen Rhein und Loire wüteten die Wikinger immer wieder mit Schwert und Feuer. Sie mordeten, raubten und brannten alles nieder: Ganze Städte, Klöster, Dörfer, selbst kleine Weiler, stets dort, wo es was zu rauben gab.
Im Jahre 891 wurde die Gefahr auch für unseren Raum wieder konkret. Im Frühjahr 891 hatten normannische Verbände die Maas überschritten und waren ostwärts in Richtung Aachen gezogen. In der alten Kaiserstadt hofften sie erneut, wie 10 Jahre zuvor, reiche Beute zu finden. Nach den zeitgenössischen Chronik-Aufzeichnungen durchzogen sie ein “wald- und sumpfreiches Gebiet in der Umgebung von Aachen”. Es ist deutlich, dass damit die Ausläufer des Hohen Venns gemeint waren. In dieser Gegend fingen sie Provianttransporte des fränkischen Heeres ab. Sie töteten Alle, die sich ihnen in den Weg stellten und raubten zahlreiche Fuhrwerke mit Lebensmitteln, die für die kaiserliche Residenz in Aachen bestimmt waren.
Die fränkische Obrigkeit reagierte sogleich: Ende Juni 891 rückten fränkische Heeresverbände maasabwärts bis zur Einmündung des Flüβchens Göhl. Sie näherten sich also dem Bereich des früheren Standlagers. Hier mussten sie aber eine herbe Niederlage einstecken. Daraufhin sammelte der ostfränkische König Arnulf ein Heer und zog zum Rhein. Währenddessen schickten sich die Normannen an, am Ufer der Dyle bei Löwen ein Winterlager aufzuschlagen. In der zweiten Oktoberhälfte 891 drang dann das Heer Arnulfs über die Maas bis Löwen vor. Die offenbar überraschten Normannen wurden geschlagen. Sie wurden in die Dyle gedrängt, die Hochwasser führte, wo viele, darunter zwei Anführer, die als Könige bezeichneten Siegfried und Gottfried, den Tod gefunden haben sollen.
Als Erinnerung an diese siegreiche Schlacht sei auf die Verehrung des hl. Pankratius hingewiesen. König Arnulf hatte sein Heer unter den Schutz des römischen Heiligen gestellt, als ihm in einer anderen kriegerischen Auseinandersetzung die Eroberung Roms vom Pankratiustor der Ewigen Stadt gelungen sei. Nach der Schlacht an der Dyle bei Löwen sorgte Arnulf dafür, den Kult seines Schutzheiligen Pankratius zu popularisieren. So finden wir den Heiligen als Patron zahlreicher Kirchen in der Umgebung von Löwen (in Kraainem, Sterrebeek und anderen Gotteshäusern Brabants), aber auch eigenartigerweise in Konzen, der Urzelle des Monschauer Landes. Hier soll offensichtlich der Pankratiuskult von Arnulf persönlich eingeführt worden sein, wie einige Studien behaupten. Demnach soll der alte Königshof Konzen ein weitreichender Ausstrahlungspunkt zur Verehrung dieses Heiligen geworden sein, dem König Arnulf den Sieg gegen die Normannen an der Dyle zuschrieb.
Dieser Sieg Arnulfs bei Löwen war vor allen Dingen ein moralischer Erfolg für die Franken. Erst später wurde er als ein Schlusspunkt in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Normannen angesehen. Indessen blieb dies vorerst nur bedingt der Fall, denn die Reste des normannischen Heeres drangen im Februar 892 über die Maas in das ripuarische Land ein. Sie erreichten Bonn und besetzten einen Ort – wahrscheinlich Lannesdorf bei Mehlem. Hier konnten sie der Gegenwehr eines fränkischen Truppenverbandes ausweichen, worauf sie quer durch die Eifel zogen und erneut auf das Kloster Prüm zustrebten, das zum zweiten Mal in knapp 10 Jahren angegriffen wurde.
Der Angriff der Normannen im Februar 892 kam plötzlich und traf die Prümer Klostergemeinschaft unerwartet. Der amtierende Abt Farabert und die Konventualen konnten mit knapper Not entkommen. Jedoch nicht Alle, denn einige Mönche, die zurückgeblieben waren, und der gröβte Teil der Knechte wurden ermordet. Der andere Teil der Dienerschaft wurde in die Gefangenschaft abgeführt. Das Kloster wurde gänzlich verwüstet.
Wohin damals Abt und Konvent mit den Abteischätzen geflüchtet sind, wird nicht überliefert. Wohl wird gemeldet, es habe sich ein Teil der Mönche nicht den flüchtenden Brüdern anschlieβen können, wohl hauptsächlich betagte oder gehbehinderte Klosterinsassen; vielleicht aber auch entschlossene Klostermänner, die den anstürmenden Horden trotzen wollten. Unerfahren im Kriegsgeschäft, hatten sie gegenüber den grausamen normannischen Raubkriegern keine Chance.
Nach der vollbrachten Zerstörung des Klosters Prüm zogen die Wikinger westwärts in Richtung Ardennen. Auf ihrem Rückmarsch erreichten sie eine auf einer Anhöhe neuerrichtete Burg, wohin aus Furcht vor ihnen eine unzählige Volksmenge geflüchtet war. Die Normannen erstürmten unverzüglich den Burgberg, metzelten die gesamte Menschenmasse nieder und kehrten mit erheblicher Beute zu ihrer Kriegsflotte zurück, die wahrscheinlich an der Maas festgemacht hatte. Sie verlieβen dann mit ihren Schiffen unsere Regionen. Es war ihr letzter Auftritt gewesen.
Die “normannische Gefahr” galt allerdings erst dann als endgültig gebannt, als die nordischen Räuber und Plünderer das Gebiet um den unteren Seinelauf und die Gegend südwestlich davon in Besitz nahmen und sesshaft wurden. Es ist das Land, das später Normandie genannt wurde, und dessen Herrscher Rollo um das Jahr 910 auch die fränkische Anerkennung fand.
Die neuerrichtete Burg in der Westeifel, die von den Normannen bei dem soeben beschriebenen, letzten Angriff eingenommen wurde und die zum Schauplatz eines furchtbaren Gemetzels wurde, hat seit vielen Jahrzehnten lokale Geschichtsschreiber bemüht, um die auf einer Bergnase liegende neuerrichtete Burg zu lokalisieren, dieses, wie es im Text von Regino heiβt “castrum noviter constructum”. Der bekannte Pfarrer und Heimatforscher des 19. Jahrhunderts, Michael Bormann, hat Dasburg ins Gespräch gebracht, die hoch über der Our an einem Bergsporn liegt. Es kommen wohl noch andere Burgberge am Rande von Eifel und Ardennen für den Ort des blutigen Geschehens von Februar 892 in Betracht. Ausgangspunkt ist die allgemeine Annahme, dass die von den Normannen angegriffene Fluchtburg auf ragendem Berg wohl nicht weiter als eine Tagesreise (das sind 35 bis 40 Km) westlich von Prüm lag, obgleich dieser Entfernungshinweis nicht in der geschichtlichen Darstellung des Ereignisses enthalten ist.
Man hat auch Neuerburg ins Gespräch gebracht, wobei man eine vage sprachliche Verbindung mit dem genannten “castrum noviter constructum” sucht, der neuerrichteten Befestigungsburg. Man könnte aber auch unsere Westeifeler Burgen in Betracht ziehen: Burg Reuland oder Schönberg. Doch mit übertriebenem Lokalpatriotismus kann die Frage nicht gelöst werden.
Die Folgen der Normannenstürme
Die Plünderungswellen der Normannen hatten Folgen, die heute noch spürbar sind.
Indirekt verdanken wir den Normannen ein grundlegendes Dokument unserer Regionalgeschichte: Es ist das Prümer Urbar, ein Verzeichnis mit Beschreibung der Güter, die der Abtei gehörten. Es wurde gleich nach seinem Amtsantritt von Abt Regino um das Jahr 893 in Auftrag gegeben. Die Normannen hatten das Land derart verwüstet, dass dem Prümer Abt, der Ordnung in die zerfahrenen wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Abtei bringen wollte, eine übersichtliche Darstellung wichtig und notwendig erschien. So entstand eine der bedeutendsten regionalgeschichtlichen Quellen unseres gesamten Gebietes. Das Prümer Urbar wurde 1222, 329 Jahre später, von dem Prümer Exabt Caesarius von Milendonck kopiert und aktualisiert; es ist ein geschichtliches Monument.
Eine weitere und gänzlich andere Folge der Normannenstürme ist siedlungsgeschichtlicher Natur. Die Raubüberfälle stellten die Bewohner und die Herrschenden vor die schwierige Frage, Gegenwehr, Schutz-und Verteidigungssysteme zu entwickeln. Der Kampf auf offenem Feld, jede Auflehnung und Resistenz schienen aussichtslos. Das Massaker bei Prüm im Januar 882 dürfte die Aussichtslosigkeit jeder Gegenwehr bewiesen haben. Die Klostergemeinschaft von Prüm und die Bewohner der Umgebung waren den Gewalttaten der normannischen Räuberbanden wehrlos preisgegeben.
Die logische Folge war also die Errichtung von Befestigungen und Fluchtburgen, wo sich die Landbevölkerung in Zeiten höchster Gefahr zurückziehen konnte. Das neuerrichtete “castrum” von 892 war mit Sicherheit auf die Erfahrungen der Katastrophe von 882 zurückzuführen. Dass aber diese Fluchtburg dem Ansturm der normannischen Raubkrieger nicht standhielt, könnte der Tatsache zuzuschreiben sein, dass das Befestigungswerk noch nicht “sturmfest” war.
Es entstanden also Burgen als schützende Befestigungen, meistens auf verteidigungsgünstigen Bergnasen, von wo der Blick weit ins Land ging, und die heranziehende Gefahr schneller eingeschätzt werden konnte. Die Anlagen sollten dem Schutz der Siedlungen und der landwirtschaftlichen Ertragshöfe auf dem wehrlosen, freien Land dienen, die meistens nicht befestigt waren.
Die Burgen erfüllten auch später, als die Normannengefahr gebannt war, ihre Schutzrolle, denn andere kriegerische Völker (wie die Ungarn) und plündernde Räuberbanden verschonten nicht das Land der Eifel und der Ardennen.
Unsere Ansicht über die Entstehung der Burgen als Folge dieser Entwicklung kann nur durch die Archäologie belegt werden. Grabungen, die 1990 an der Südwestecke des Burghofes von Reuland durchgeführt wurden, legten Funde, darunter Gebeine, frei, die durch die Radio-Karbon-Analyse auf ein Alter von 900 bis 1000 Jahren fixiert wurden. Dies führt uns schon nahe an die Zeit der Normannenstürme heran. Ähnliche Grabungen müssten auch an den anderen Befestigungsorten unseres Raumes durchgeführt werden.
Eine nachträgliche Folge dieser Entwicklung ist der Aufstieg der lokalen Adelsgeschlechter und Burgmänner, die sich zunächst als Anführer der lokalen Bevölkerung und ausgewählte Dienstleute der Obrigkeit präsentierten, später aber eine autonomere Machtposition in ihrem Bezirk ausbauten.
So haben die Normannen nicht nur ein Jahrhundert geprägt; sie haben auch ortsgeschichtliche Spuren hinterlassen. Natürlich kann der Grad der von ihnen angerichteten Zerstörungen nicht mehr bestimmt werden, zumal das Ausmaβ der Verwüstungen in den zeitgenössischen Quellen stark übertrieben wurde. Die Normannen verfügten weder über die Zeit noch über die erforderlichen technischen Mittel, um ein systematisches Zerstörungswerk durchzuführen. Die von ihnen gelegten Brände verzehrten gröβtenteils nur die Holzteile der Gebäude.
Tiefer saβ allerdings der psychologische Schock, den die andauernden Raubüberfälle der normannischen Horden verursacht haben. Diese geistige Erschütterung hat sicherlich dazu beigetragen, die Erinnerung an die Normannenstürme über Jahrhunderte hinweg wach zu halten.
Ich danke Ihnen!