Herr Bürgermeister, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Es ist mir eine Ehre und eine Freude, im Rahmen dieser Feierstunde im St. Vither Rathaus das Anton-Hecking-Schild entgegennehmen zu dürfen.
Damit darf ich mich einreihen in die schon stattliche Zahl der vom ZVS geehrten Heimatforscher und ich möchte ganz herzlich Danke sagen für diese ehrenvolle Auszeichnung, die gewiss mancher andere verdienstvolle Heimatfreund eher verdient hätte. Aber mein Freund Hubert und einige andere haben an den Stellschrauben gedreht und mich gefragt, ob ich dieses Hecking-Schild annehmen würde.
Bei der Laudatio von Hubert habe ich nun soviel Positives über mich selbst erfahren, dass ich gar nicht anders konnte als annehmen.
Im Vorwort zu seiner 1875 erschienenen Geschichte der Stadt und ehemaligen Herrschaft St. Vith schreibt Dr. Anton Hecking, mit dessen Namen diese Feierstunde eng verbunden ist, fast alle Örter seien bereits von Geschichtsfreunden mit einer Geschichte ihrer Vorzeit bedacht worden, auf der von St. Vith habe aber bis dahin der Schleier geruht.
Was hätte der Mediziner und Heimatforscher Hecking wohl gesagt, wenn er die Flut der heute vorliegenden Ortsmonographien gekannt hätte? Welche hervorragende Rolle hätte er auch in einem Geschichtsverein wie „Zwischen Venn und Schneifel“ spielen können! Ist es nicht gerade dieser Verein, der den Anstoß zu so vielen Ortschroniken gegeben hat?
Nun, Hecking hatte eine Quellenlage, die sich für St. Vith als sehr ungünstig präsentierte. Die wiederholten Feuersbrünste und namentlich die Einäscherung der Stadt durch die Truppen Ludwigs XIV. (die schlimmsten Verwüstungen richteten die Franzosen der Luxemburger Garnison am 5. September 1689 an, als sie die Stadtmauern, die Türme und die Burg mit Pulver sprengten und dann die ganze Stadt in Brand steckten) haben alle Urkunden einschließlich der Familiendokumente vernichtet.
Alle städtischen Archive und Privaturkunden gingen also damals verloren, so dass Hecking, wie er schreibt, Jahre lang alle seine Mußestunden darauf verwandt hat, alles auf St. Vith Bezügliche aus Schriften, aus privaten und öffentlichen Archiven zu sammeln und dasselbe dem Leser in einer gesonderten Schrift darzubieten.
Das jahrelange Sammeln und Zusammentragen von geschichtlichen Details, so wie es Hecking praktiziert hat, gehört zu unserem täglichen Brot. Wir Heimatgeschichtler tragen Mosaiksteinchen zusammen, aus denen schließlich ein größeres Geschichtsfresko entstehen kann. Wir tun dies häufig ohne umfassende Ausbildung als Historiker und werden dann auch gerne von den Inhabern der Geschichtslehrstühle als Barfußhistoriker bezeichnet. Wir können mit dieser etwas despektierlichen Etikettierung leben!
Der Kulturphilosoph Oswald Spengler sagte zwar, die Welt könne nur in großen Zügen, nicht in Detailansichten begriffen werden. Spengler selber hatte diesen Blick auf das Ganze, man könnte auch andere Kulturhistoriker des 20. Jahrhunderts im gleichen Atemzug nennen, z. B. Arnold Toynbee oder Egon Friedell.
Natürlich hatte Spengler Recht. Ein geschichtliches Fresko, eine Gesamtschau, ergibt sich nur, wenn die Einzelteile des Mosaiks oder des Puzzels zu diesem Bild zusammengefügt sind. Aber der Gesamtschau geht eben die Kleinarbeit am Detail voraus. Zum Satz gehört auch das erste Wort. Und fehlt das erste Wort, so bleibt der Sinn des Satzes vielleicht im Dunkeln.
„Wir stehen auf den Schultern unserer Vorfahren“, sagte Viktor Gielen, der letzte schreibende Pfarrer der Ostkantone und übrigens, nebenbei bemerkt, auch Träger dieser ehrenvollen Auszeichnung des Geschichstvereins „Zwischen Venn und Scheifel“. Das Heute erklärt sich nur aus dem Gestern, oder, wie der hl. Paulus es so schön ausdrückt: „Nicht du trägst die Wurzel, die Wurzel trägt dich“.
Das bedeutet, dass die Erinnerung und die Hinterfragung der Herkunft Zukunft eröffnet. Den Kontakt zu den Wurzeln zu verlieren, bedeutet kulturellen Selbstmord.
Das gilt für ein Land als Großeinheit gesehen, das gilt aber auch für ein einzelne kleine Dorfgemeinschaft.
So wie es im Großen gesehen ein allen Westeuropäern gemeinsames Werteempfinden für Begriffe wie Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und vieles andere mehr gibt, so gibt es auch im kleineren Maßstab ein Netz an Gemeinsamkeiten, die so etwas wie Heimatgefühl entstehen lassen.
Ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein setzt nicht voraus, dass man sich vorrangig mit der nationalen Geschichte auseinandersetzt, denn, so sagte der Philosoph Arthur Schopenhauer: „Die Geschichte eines Ortes, und sei er noch so klein, ist wichtig und interessant, kann man an ihr doch die Geschichte der Menschen studieren.“
Das heimatgeschichtliche Engagement war in der Vergangenheit bei einigen wenigen Privilegierten zu finden. Der Pfarrer, der Dorfschullehrer, der Kreisschulinspektor, der Landrat, der Bürgermeister: das waren die Männer, die häufig ihre Mußezeit der Heimatgeschichte widmeten. Im preußischen Staat wurde es den Bürgermeistereien schon in den 20er Jahren des 19. Jhs (genauer gesagt: 1825) zur Pflicht gemacht, eine Chronik ihrer Gemeinde anzulegen und alljährlich fortzuschreiben. Die Kgl. Regierung zu Aachen verfügte damals (ich zitiere): „Was in dem Laufe des Jahres sich in der Gemeinde und für dieselbe Bemerkenswertes zugetragen hat, für die Nachwelt festzuhalten“.
Über Witterung und Ernte, Gesundheitszustand von Mensch und Tier und vielerlei besondere Vorkommnisse geben diese Dorfchroniken Aufschluss.
Wenn frühzeitig bei der Regierung die Meldung einging, durch Spätfröste sei die Kartoffelernte stark geschädigt worden oder Regenfälle hätten die Getreideernte schlecht ausfallen lassen, so konnte höheren Orts schon zeitig durch entsprechende Maßnahmen einer Hungerkatastrophe vorgebeugt werden.
Leider reißen diese Chroniken, dort, wo sie die Kriegswirren überstanden haben, mit dem Ersten Weltkrieg ab und leider kennen wir in Belgien keine solche Verordnung, die es den Gemeinden zur Pflicht machte, für die örtliche Bevölkerung wichtige Ereignisse festzuhalten. Sogar der vor noch nicht so langer Zeit alljährlich vor dem Gemeinderat abzulegende Rechenschaftsbericht des Bürgermeister- und Schöffenkollegiums ist Vergangenheit. Manche deutsche Städte beschäftigen dagegen einen Stadtschreiber!
Es ist eine allgemein gültige Feststellung, dass das heutige Geschichtsbewusstsein sich in zunehmenderem Maße an der engeren Heimat und der persönlichen Umwelt orientiert. „Grabe, wo du stehst“, ist die aus den skandinavischen Ländern herübergekommene Devise der Bachfußhistoriker. Unser Ziel ist es, die im Schatten der jeweiligen nationalen Geschichts-schreibung unbeachtet bleibende lokale Geschichte, vor allem auch Alltags- und Sozialgeschichte, zu überliefern. Die geschichtliche Kulturarbeit wird dadurch zur Heimarbeit an der Heimat bzw. Heimatgeschichte, weg vom passiven Kulturkonsum.
Bei der Laudatio meines Freundes Hubert kam mir der aus der Zeit des Vormärz stammende Hochgesang auf den Fürsten in Erinnerung. „O hängt ihn auf, o hängt ihn auf, o hängt ihn auf den Lorbeerkranz der Ehren…“
Und weiter sangen die Studenten damals, im Vormärz, in den nachnapoleonischen Jahren des 19. Jhs.:
„O wie gemein, o wie gemein, o wie gemeinsam unsre Herzen schlagen,
Seht Ihr heut aus, seht Ihr heut aus den Worten, die wir sagen“.
Was lässt denn unsere Herzen „gemeinsam höher schlagen“?
Was wir gemeinsam haben, rankt sich vorwiegend um den Begriff der Heimat. Um etwas Undefinierbares also. Oder ist hier auch nur einer, der eine Definition der „Heimat“ geben könnte?
Es ist mehr als Heim odere Heimstatt. Es ist, so stand vor einigen Jahren in einem Stern-Beitrag, deutsch und unübersetzbar.
„Heimat – A German Dream“ heißt ein von 2 englischen Autorinnen im Jahre 2000 veröffentlichtes Buch. Die beiden Damen versuchen, ihren Landsleuten das Wort „Heimat“ mit den Begriffen „Homeland“ und „roots“ nahezubringen, Ort der Verwurzelung also.
Der Ort der Verwurzelung ist für jeden ein anderer, wie die Autorinnen darlegen: Das geduckte Dorf im Hunsrück, der Krabbenkutter-Hafen in Friesland, die Mietskasernen mit ihren Hinterhöfen am Prenslauer Berg, die schwarze Zechensiedlung im Ruhrgebiet, die dunklen Tannenwälder des Schwarzwaldes, Weinhänge an Mosel und Rhein, der Kölner Dom und die baierischen Schlösser… Orte, wo Wurzeln haften, einmalig.
Heimat kann eine Gegend oder Landschaft meinen, aber sich auch auf Dorf, Stadt, Land, Nation, Vaterland, Sprache oder Religion beziehen.
Heimat bezeichnet also keinen konkreten Ort (Heimstätte), sondern Identifikation. Es ist die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst.
Aber Heimat ist noch mehr.
Die Erinnerung gehört dazu, die ins Unterbewusstsein eingebrannte Mischung aus Geschmack, Geruch, Geräuschen, für den Küstenbewohner kommt dazu das grelle Schreien der Möwen, die Luft, die nach salziger See riecht, für den Baiern
Weißwurst und Weizenbier, für den Eifeler der Dialekt der Kindheit etc.
„Solange Heimat da ist, spürt man sie kaum. Wie gute Luft, die man atmet und für selbstverständlich hält. Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“, schrieb Theodor Fontane.
Deswegen ist Heimat auch umso schöner, je weiter sie weg ist. Aus der Ferne erkennt man keine fahle Haut, keine Falten. Ferne verklärt und macht sehnsüchtig. Manche ertragen die Ferne nicht auf Dauer.
Ihre Sprache ist für viele der wichtigste Teil der Heimat. Er sei, so schrieb der Emigrant Stefan Zweig, der aus Hitler-Deutschland geflohen war, „erschöpft durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns“ und resigniert „nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet“. Der Verlust der Heimat und vor allem der Sprache wog so schwer für Stefan Zweig, dass er sich 1942 gemeinsam mit seiner Frau in Brasilien das Leben nahm.
Sprache allein genügt jedoch nicht, um ein Gefühl der Geborgenheit, des Zu Hause Seins, zu schaffen. Wir können das bei den vielen Gruppen von Zugezogenen feststellen. Sie alle suchten Arbeit oder Sicherheit und sie brachten ihre eigene Heimat mit, so dass es allüberall nicht mehr Heimat, sondern Heimaten gibt, d. h, Orte, wo man Arbeit hat, sich verwirklichen kann , wo das Leben Sinngebung erfährt. Deswegen, so Peter Sandmeyer, riecht es auch in Schabbach (dem imaginären Hunsrück-Dorf aus der Filmserie „Heimat“) nicht mehr nur nach Eichenwald und Erbsensuppe, sondern längst auch nach Döner und Kebab.
Herbert Grönemeyer hat zum Heimatbegriff (angesichts der Ost-West-Spannungen in Deutschland) ein paar schöne Verse geschrieben und in Musik gekleidet:
„Zwei Sprachen Land
entfernt verwandt
an verschiedene Ufer gespült,
zum gemeinsamen Gelingen verdammt
Heimat ist kein Ort
Heimat ist ein Gefühl.“
Freiwillig gehen nur die wenigsten aus der Heimat fort. Wenn Eifeler in der Vergangenheit ausgewandert sind, dann weil die Heimat sie nicht mehr ernähren konnte.
Heinrich Heine, der selber seine deutsche Heimat verlassen musste und im Pariser Exil lebte, schrieb in seinen „Göttinger Wurstzitaten“ ein Gedicht über die Wanderratten.
Es gibt zwei Sorten Ratten,
die hungrigen und die satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
die hungrigen aber wandern aus.
Die radikale Rotte
Weiß nichts von einem Gotte.
Der sinnliche Rattenhaufen
Er will nur fressen und saufen…
So eine wilde Ratze,
die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
sie hat kein Gut, sie hat kein Geld,
Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.
Heine denkt an die Marxisten, nicht an diejenigen, die ihre Heimat aus Not verlassen müssen.
Aus unserer Generation haben viele die Heimat verlassen müssen. Ich möchte sie nicht mit Wanderratten gleichsetzen.
Aus meinem eigenen Abiturjahr (wir waren 8 und es war 1955) konnte nur einer sich in der Heimat festigen.
Im folgenden Jahre mit 5 Abiturienten konnte keiner im heimatlichen Umfeld bleiben. Auch der Bischof nicht. So könnte man die Abiturjahrgänge einzeln durchkämmen auf der Suche nach denjenigen, die nach dem Studium im St. Vither Land ihre Existenz gründeten. Es sind nur wenige.
Heimat ist für die meisten dieser Generation ein Ort der Erinnerung geblieben. Diese erinnerte Heimat ist nicht identisch mit der wirklichen. Die wirkliche Heimat ist anfällig für Veränderungen. Menschen sterben, Häuser verschwinden, andere entstehen. Das Leben ist gekennzeichnet durch Wechsel.
Wie schrieb Peter Sandmeyer im Stern-Beitrag:
„Deswegen ist jede Heimat, kaum dass sie errungen wurde, immer auch schon verlorene Heimat.
Vielleicht ist Heimat ein imaginärer Ort, an dem sich Nostalgie und Utopie umarmen. Ein Wunschtraum. Der Traum von einem Ort ohne Zeit, ohne Geschichte, ohne Gemeinheit, Bosheit und Niedertracht. Vielleicht findet man wahre Heimat immer nur bei sich selbst.
Für Ernst Bloch, den unermüdlichen Verfechter des Traums nach vorn und des Prinzips Hoffnung war Heimat allerdings viel mehr, und zwar das eigentliche große Ziel des Menschen. Hat dieser zu sich selbst und seinen Möglichkeiten gefunden, dann wird in der Welt etwas entstehen, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Für den Philosophen Bloch liegt Heimat also nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Heimat meint nicht Herkunft. Die wirkliche Genesis, steht nicht am Anfang, sondern am Ende.
Als Gegenüber der Fremde wird Heimat im utopischen Sinne als der erst noch herzustellende Ort in einer Welt jenseits der Entfremdung verstanden. Fast im Sinne von St. Augustinus, der im 4. Jh. schrieb: „Denn unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Man hat mich gebeten, mich kurz zu fassen. Ich werde das beherzigen, wohl wissend, wie unser MP K-Heinz Lambertz es sagte: „Ich weiß, dass ich das größte Hindernis zwischen Ihnen und dem versprochenen Imbiss bin.“
Nochmals herzlichen Dank dem ZVS, hier stellvertretend seiner Führungsriege,
und herzlichen Dank Ihnen allen für Ihr geduldiges Zuhören. Das Thema konnte nur angeschnitten, nicht erschöpfend behandelt werden.